Was bedeutet “Gesundheit” für Sie?

Bis 2018 war ich Teil einer interdisziplinären Forschungsgruppe “Dynamics of Healthy Aging” der Universität Zürich. Innerhalb dieser Gruppe hatten wir ein wöchentliches, internes Forschungskolloquium. Trotz der grossen Themenvielfalt der Vorträge innerhalb des Kolloquiums gab es in der Regel einen Kommentar meines Professors, den er in fast jedem Kolloquium ansprach. Er wies darauf hin, dass wir, während wir über Gesundheit sprachen, in unseren Studien vor allem Krankheitssymptome erfassten und davon ausgingen, dass Gesundheit entsprechend als die Abwesenheit von Krankheit und Leiden definiert werden kann.

Er wurde nicht müde zu betonen, dass, wenn wir Aussagen über Gesundheit treffen wollen, wir doch Gesundheit messen sollten. Er hatte Recht, in unseren Studien war die "gesunde" Subgruppe unserer Stichproben jeweils die, die nicht an Demenz, Depression, Angst oder kognitiven Beeinträchtigungen litt... Warum haben wir es also nicht besser gemacht, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen? Warum haben wir nicht begonnen, Gesundheit direkt zu messen und nicht indirekt aufgrund der Abwesenheit bestimmter Arten von Krankheiten? Möglicherweise deshalb, weil die Definition von Gesundheit ein sehr komplexes Problem ist und es in vielen Forschungsbereichen eine starke Tradition gibt, Gesundheit durch die Linse von Krankheit zu betrachten. Ich denke, die einfachste Antwort, die wir alle im Kopf haben, folgt dem gleichen Gedankengang wie unsere Definitionen und geht in etwa so: "Ich bin gesund, wenn ich nicht krank bin." Jedoch, wenn man etwas länger über diese Annahme  nachdenkt, kommt (zumindest mir) die Frage in den Sinn: "Ist das schon alles?".

Ist Gesundheit nicht mehr als die Abwesenheit von Krankheit?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Krankheit ist: "Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. " (WHO, 1948). Das scheint mir eine ziemlich starke Aussage zu sein.  Wenn man diese Definition anwendet, frage ich mich, ob es einen einzigen Menschen auf der Erde gibt, der gesund ist. Kennen Sie viele Menschen, die sich in einem Zustand des "vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" befinden?

Ich frage mich: “Kann man nicht auch mit weniger als absolutem körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden gesund sein?” Es scheint, dass ein "gut genug" hier nicht gut genug ist. Ich weiß nicht, wie es sich für Sie anfühlt, aber tatsächlich scheint mir diese Definition eher idealistisch als realistisch und praktisch anwendbar. Jedoch formuliert die WHO deutlich, dass Gesundheit nicht nur als die Abwesenheit von etwas ist, sondern auch durch das Vorhandensein von etwas gekennzeichnet ist, nämlich Wohlbefinden. Nun, selbst wenn wir Gesundheit als den Zustand des “absoluten Wohlbefindens” akzeptieren: Wie kommen wir dorthin? Wie erreichen wir es, gesund zu sein oder zu werden?

Gesundheit als dynamischer Prozess

Das erste Gesundheitsmodell in der modernen Wissenschaft, das sich auf Faktoren konzentriert, die die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden fördern, und nicht auf Faktoren, die Krankheit verursachen, wurde 1979 von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovksy formuliert. Es wird als ‘Modell der Salutogenese’ bezeichnet. Es konzentriert sich explizit darauf, was Gesundheit ist, wie Menschen gesund werden und bleiben. Es beschreibt, wodurch Gesundheit gestärkt werden kann im Gegensatz dazu, wie Krankheit verhindert oder bekämpft werden kann. Wichtig dabei ist, dass sich Gesundheit und Krankheit in diesem Modell nicht in einer Entweder-oder-Beziehung befinden. Wir alle sind zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens sowohl gesund als auch ungesund zugleich. Dies gilt bis zu unserem Tod. Bis dahin gibt es in unserem Leben weder absolute Gesundheit noch absolute Krankheit. Selbst chronische Krankheit verhindert nicht die Gesundheit. Das bedeutet, dass es auch bei starker Krankheit einen Teil von uns gibt, der gesund ist. Und umgekehrt gilt: Egal wie gut wir uns fühlen, gibt es Teile in uns, die nicht vollkommen gesund sind. Wir bewegen uns während unseres Lebens kontinuierlich und unaufhörlich auf dynamische Weise  entlang dieses Kontinuums von "gesund" zu "krank". Es ist die konstante Anpassungsleistung unserer Selbst an innere und äußere Zustände, welche unsere allgemeine Gesundheit darstellt.

Natürlich sind wir als Menschen keine grünen Bälle: Aber dieses GIF demonstriert gut, dass wie auch wir uns zeitlebens zwichen den Polen “Gesundheit” und “Krankheit” bewegen. Unsere Entwicklung ist relativ und wir sind immer ein bisschen von beidem;…

Natürlich sind wir als Menschen keine grünen Bälle: Aber dieses GIF demonstriert gut, dass wie auch wir uns zeitlebens zwichen den Polen “Gesundheit” und “Krankheit” bewegen. Unsere Entwicklung ist relativ und wir sind immer ein bisschen von beidem; die einzige Konstante in diesem Prozess ist die permanente Veränderung.

Auch wenn wir also dem Gesundsein einen stabilen und anhaltenden Platz in unserem Leben einräumen wollen, ist Gesundheit im Verständnis der Salutogenese im Laufe der Zeit eher eine sich ständig verändernde Heterostase als eine stabile Homöostase. Diese Idee des dynamischen Wandels und dass unsere Lebenslinie von Höhen und Tiefen geprägt ist, wird durch die Form der Schlangen im Äskulapstab (Stab mit einer Schlange) bzw. im Caduceus (von zwei Schlangen umschlungener Stab, manchmal von Flügeln gekrönt) visualisiert, der als Symbol für viele verschiedene medizinische oder gesundheitliche Einrichtungen oder Dienste verwendet wird (z.B. als Logo der WHO, Apotheken oder auf Krankenwagen aufgedruckt).

Gesundheit ist mehr als Biologie

Zum Abschluss dieses Artikels möchte ich noch eine jüngere Definition der WHO zum Thema Gesundheit hinzufügen, nämlich ihre Definition des ‘Gesunden Alterns’ aus dem Jahr 2015, die ich immer als sehr hilfreich empfunden habe, wenn es darum ging, sich der Komplexität dieses Themas zu stellen. Da das Altern mit dem Tag unserer Geburt beginnt, bin ich der Meinung, dass sich diese Definition nicht nur auf die Teilmenge von uns bezieht, die älter als 65 Jahre ist, sondern im Grunde auf jeden. Laut dem World Report on Ageing and Health der WHO (2015) wird gesundes Altern definiert als "[...] der Prozess der Entwicklung und Aufrechterhaltung der funktionellen Fähigkeiten, die Wohlbefinden [...] ermöglichen." Dabei wird gesundes Altern als die Fähigkeit des Einzelnen verstanden, "das zu sein und zu tun”, was für den einzelnen Menschen von Wert und Wichtigkeit ist. Diese Definition hat meine Sichtweise dahingehend erweitert, dass Gesundheit weit mehr ist als ein körperliches Phänomen, das durch biochemische Prozesse verursacht wird, sondern ein Entwicklungsprozess, der Körper, Geist und Seele gleichermaßen einbezieht. Gesund zu sein bedeutet letztlich, ein Leben zu führen, das uns - mit oder ohne gesundheitlichen Problemen - erlaubt, Dinge zu tun, die für uns wichtig und sinnvoll sind, die unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität erhalten. Gesund zu sein ist also viel mehr als ein Leben in einem krankheitsfreien Körper.

Ich schätze es auch, dass diese Definition darauf hinweist, dass gesundes Altern oder gesunde Entwicklung etwas sehr Individuelles ist, was letztlich für jeden Menschen anders aussehen kann:  "Das zu sein und zu tun, was wichtig wichtig und wertvoll ist" wird in manchen Bereichen sehr ähnlich für verschiedene Menschen aussehen - und in manchen Aspekten komplett unterschiedlich. Während die meisten von uns bestimmte Werte teilen (wie z.B. respektiert zu werden für das, was wir sind; sich kompetent zu fühlen und mit einem Gefühl von Sinnhaftigkeit zu leben, etc.), können einige spezifische Themen von Person zu Person sehr unterschiedlich sein: wie z.B. Alpakas zu züchten, ein Tattoo-Künstler zu sein, im Wald zu wandern oder Cello zu spielen. In diesem Sinne ist gesund sein vielfältiger als die stereotypen und wenig differenzierten Vorstellungen von Gesundheit, die wir manchmal in unseren Köpfen umhertragen.

 

Gesundheit ist komplex und mehr, als die Gesundheitsindustrie vermitteln will

Beide oben skizzierten Ansätze weisen darauf hin, dass Gesundheit nur dadurch verstanden werden kann, wenn alle Koordinaten der menschlichen Existenz berücksichtigt werden und nicht nur der körperliche Zustand eines Menschen. Dies ist kein wirklich neuer oder origineller Gedanke, sondern ähnelt eigentlich der Grundprämisse der über 3000 Jahre alten ayurvedischen Medizin. Die ayurvedische Medizin geht davon aus, dass Gesundheit und Wohlbefinden von einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Seele abhängen. Ihr Hauptziel ist es, Gesundheit zu fördern, nicht Krankheit zu bekämpfen und in diesem Prozess Körper, Geist und Seele gleichermaßen zu berücksichtigen. Insgesamt widersprechen sowohl dieser uralte Ansatz des Ayurveda sowie der moderne Gesundheitsansatz der WHO der gängigen Annahme, dass "Gesundheit" etwas ist, das in erster Linie in unserer körperlichen Dimension angesiedelt ist und von dort aus seine Folgen in unser Leben ausstrahlt.

 

In diesem Sinne denke ich, dass gesundheitsfördernde Aktivitäten, die sich nur auf unseren Körper beziehen, nur von begrenztem Nutzen sind, insbesondere wenn sie mit einer Vernachlässigung von Gesundheit und Wohlbefinden in anderen Bereichen unserer Existenz einhergehen.So ist es vielleicht weniger gesundheitsförderlich als man meinen könnte, wenn man Grünkohl-Smoothies trinkt, obwohl man deren Geschmack eigentlich nicht mag. Oder wenn wir uns an eine orthodoxe Fitnessroutine halten, die leider um 12 Uhr nachts oder um 4 Uhr morgens stattfinden muss, weil wir den Großteil unserer wachen Stunden in unserem Job verbringen und uns ängstlich abmühen, nicht von anderen überflügelt zu werden. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht, dass Fitnessroutinen, Goji-Beeren oder grüne Smoothies ungesund sind, das sind sie sicher nicht. Es könnte jedoch sein, dass wir, genauso wie wir versuchen, den Gesundheitszustand einer Person nur an der Abwesenheit von Symptomen messen, zu kurz greifen, wenn wir denken, dass Ernährung und Bewegung die wichtigsten Merkmale eines gesunden Lebensstils sind.


Meiner Meinung nach hat die Stärkung unserer Gesundheit vor allem auch mit der Stärkung unserer Resilienz durch Selbstfürsorge und Achten unseres emotionalen Wohlbefindens zu tun, so dass wir ein Leben erschaffen können, das wir als sinnvoll erachten: ein Leben, in dem man "sein und tun kann, was wichtig und wertvoll ist". Diverse Studien weisen darauf hin, dass unsere Gesundheit und Langlebigkeit mindestens genauso viel mit unseren Gedanken und Gefühlen zu tun haben wie mit unseren Trainings- und Ernährungsgewohnheiten. Aber das ist ein ganz eigenes Thema und wird in Teil II dieses Blogposts behandelt...

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Gibt es schlechte Gefühle?